Mein Name ist Hase ... oder wie kommt's, dass keiner etwas gewusst haben will?

Als nach dem Zweiten Weltkrieg der Holocaust für alle Welt ans Licht kam, rückte die deutsche Bevölkerung in den Fokus des öffentlichen Interesses. „Das wussten wir nicht“, war die kollektive Antwort auf die berechtigte Frage nach Verantwortlichen. Hat wirklich keiner was gewusst? – Niemals. Hat die Mehrheit nichts gewusst? – Sehr unwahrscheinlich. Müssen wir unterscheiden zwischen nicht-Wissen und nicht-Wahrhabenwollen?

 

Unterhält man sich heute mit Zeitzeugen, bekommt man sehr unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob sie denn vom Holocaust und all den Nazi-Verbrechen, die sich zum Teil auch vor der eigenen Haustür abgespielt haben könnten, nichts mitbekommen haben. So manches Mal konnte man den Eindruck gewinnen, der Landstrich, in dem ich für den Roman »Hanna« nachforschte, sei ein einziges Widerstandsnest gewesen. War es aber nicht. Die einstigen Schilderungen der Alten untermauern auch heute noch so manche Nachkommen. Wer hat schon gerne Nazi-Anhänger unter den eigenen Vorfahren …

 

Schwieriges Thema.

 

Betrachten wir die Ausgangslage in den Anfängen des 20. Jahrhunderts, die sich stark von unserer heutigen Weltanschauung unterscheiden: Der Antisemitismus war keine Erfindung der Nationalsozialisten. Ihn gab es seit Jahrhunderten, er war weit verbreitet und sozusagen „salonfähig“. Damit eckte man kaum an, vermutlich selbst in christlichen Einrichtungen nicht. Viele waren gegen die Nazis und dennoch von antisemitischem Denken geprägt.

Die Todesstrafe war schon lange im Gesetz verankert – wurde in der BRD aber 1949, in der DDR 1987 abgeschafft. Arbeitslager waren eine gebräuchliche Strafmaßnahme für Kriminelle. Daher dürfte es zur damaligen Zeit anfangs nur wenige entrüstet haben, dass man all jene, die man kriminalisierte – ob berechtigt oder nicht –, in sogenannte Arbeitslager steckte. Denn als solche wurden die Konzentrationslager euphemistisch bezeichnet. In der zur damaligen Zeit üblichen Obrigkeitsgläubigkeit haben das zumindest zu Beginn des Dritten Reichs vermutlich nur wenige hinterfragt.

 

Im Laufe der 1930er Jahre dürften in der Bevölkerung erste Vermutungen und Gerüchte aufgekommen sein, dass Hitler ernst macht mit dem, was er in seinem Pamphlet »Mein Kampf« angekündigt hat. – Zu ungeheuerlich? Zu unglaublich, um es für bare Münze zu nehmen? Mag sein. Aber die Hinweise dürften sich mit der Zeit verdichtet haben. Spätestens seit den Novemberpogromen 1938 sollte jeder mitbekommen haben, wie der Nazi-Hase läuft. Mancher hat am Bahnhof oder andernorts vielleicht selbst gesehen, was mit den jüdischen Mitbürgern (als die die Masse sie nicht angesehen hat) passierte. Und die Leute haben sich doch sicherlich darüber ausgetauscht und das Erzählte selbst in entlegene Dörfer weitergetragen. Geredet wurde – und wird – doch immer. Glaubten sie es nicht? War es ihnen egal? Waren sie froh, die Juden los zu sein? Hatten sie Angst?

Vielleicht hat sich zu Beginn der 1940er Jahre mancher Soldat bei seinem Fronturlaub in der Heimat mit Fotos gebrüstet, die zu Hauf während der Massenhinrichtungen heimlich geschossen wurden. Es waren nicht nur die Schergen der SS oder ausländische Hilfswillige, sondern auch einfache Soldaten der Wehrmacht, die sich daran beteiligt hatten. Sonderurlaub und Schnaps waren offenbar wirksame Lockmittel.

 

Manche Zeitzeugen sagen: „Wer es wissen wollte, hat es gewusst.“ Woher kommt dann also die Aussage „Ich wusste das nicht?“, die nach dem Zweiten Weltkrieg unisono vorherrschte und sich bis heute hartnäckig in vielen Köpfen hält? Ich kann mir vorstellen, dass viele Menschen angesichts solch unvorstellbarer und eigentlich auch unaussprechlicher Verbrechen verstummten und die Augen vor der Wahrheit verschlossen.

 

In der Sozialpsychologie ist dies als kognitive Dissonanz bekannt und ein beinah „normales“ Verhalten: Wenn Fakten und innere Überzeugungen miteinander in Verbindung stehen, sich aber widersprechen und für das Welt- oder Selbstbild unvereinbar sind, entsteht ein innerer Konflikt, ein großes Unbehagen, eine innere Spannung. Werden diese Fakten dann geleugnet, reduziert sich die Dissonanz. Das geschieht auf der unbewussten Ebene, quasi als „Trick 17 mit Selbstüberlistung“.

 

Wie oft verschließen wir heute die Augen – zum Beispiel vor gesundheitlichen Themen, aber auch vor Unrecht und Gewalt in der Welt (und vor der eigenen Haustür), obwohl wir es eigentlich besser wissen? »Schauen kurz auf und grasen dann gemütlich weiter«, um es mit den Worten Herbert Grönemeyers zu sagen.

 

Als ich meine Großmutter für den Roman »Hanna« befragte und sie sagte, sie hätte zwar gewusst, dass die Juden »weggeschafft« worden seien, aber von dem Massenmord und dem Ausmaß dessen nicht, hakte ich weiter nach, hinterfragte kritischer. Und ich glaubte ihr. Wollte ihr glauben. – Habe auch ich vielleicht die Augen dabei verschlossen, irgendwas nicht gesehen oder nicht sehen wollen, was ich hätte sehen müssen? War es tatsächlich die Wahrheit? Ist es müßig, sich heute noch den Kopf darüber zu zerbrechen? Eine Wahrheit erfahren zu wollen, die wir nicht mehr vollends erfahren können?

 

Spätestens als das Nazi-Regime am Ende war, wäre aus heutiger Sicht eine Zeit der inneren Reflexion angebracht gewesen. Eine Zeit, die kognitive Dissonanz aufzubrechen, alles aufzuarbeiten und sich – sowie der Öffentlichkeit – einzugestehen, dass man es nicht hatte sehen wollen; sei es aus Angst, um die eigene Haut und die Familie zu schützen, aus Desinteresse oder anderen Gründen. Doch offenbar waren sie dazu nicht in der Lage. Zu groß die Scham, zu groß die kollektive Schuld. Und groß ganz sicher auch die Herausforderung, die eigene Last zu schultern und weiterzumachen, sich in einem bis dahin vielleicht völlig fremden Weltbild zurechtfinden zu müssen und auch die eigene Lage nicht betrauern zu dürfen.

 

Es geht in diesem Beitrag nicht darum, zu relativieren, die Vorfahren anzuklagen oder in Schutz zu nehmen. Das steht meiner Meinung nach nur denjenigen zu, die diese Zeit selbst erlebt haben. Vielleicht dürfen wir uns heute vielmehr fragen, welche Lehren wir aus dem Verhalten und dem Fehlverhalten unserer Vorfahren für uns selbst und unser eigenes Leben ziehen können. Wo verschließen wir selbst die Augen, wo wir eigentlich hinschauen müssten?

Wir sehen zu, wie Gewalt, Krieg und Zerstörung zunehmen, lassen zu, dass wir immer mehr auf dem Zahnfleisch kriechen und das Leben für viele zur Last wird. Wir sehen zu, wie Rechtspopulismus und Rechtsextremismus immer lauter werden und Geschichte sich zu wiederholen scheint. Wir sehen es! Und was tun wir dagegen? – Und vielleicht noch wirksamer: Was tun wir dafür, jeder einzelne von uns, dass die Welt wieder zu einem besseren Ort werden kann? Im Kleinen wie im Großen? Es fängt bei jedem selbst an. In uns selbst. Es braucht Mut, in sich zu gehen. Es braucht Mut, sich zu öffnen. Mut, das eigene Denken und Handeln zu hinterfragen – sich selbst und anderen gegenüber. Mut, etwas zu ändern. Für eine Zukunft voll Menschlichkeit und Liebe zum Leben.

 

 

Wann warst du zum letzten Mal mutig?