Der kindliche Mörder

Es war zum Kriegsende im Jahr 1945, als Albert Leininger sich als damals 15-jähriger mit seinen beiden Freunden im Wald aufhielt. Wie so oft streunten die drei Buben durchs Dickicht, immer auf der Suche nach etwas "Besonderem". Was diese Besonderheit sein sollte, definierten sie nie näher. Sie kannten die Wege, die deutsche Soldaten nahmen, um sich vor der Inhaftierung durch die Alliierten in Sicherheit zu bringen. Hin und wieder fanden die Jungs zurückgelassene Uniformteile. es war auch einmal ein Gürtel mit Munition für ein Maschinengewehr dabei. Spannend natürlich für Heranwachsende in diesem Alter. An diesem Tag jedoch war es anders.

"Wir waren auf dem breiten Waldweg im Schwarzbachtal unterwegs. Da, wo die Bauern auch entlangfuhren mit ihren Fuhrwerken. Mein Freund entdeckte diese silberne Kiste und holte sie gleich aus dem Gebüsch heraus. Zuerst wollten wir sie öffnen. Doch dann überlegten wir es uns anders."

Ich merke, wie schwer es ihm fällt, über das Geschehene zu reden. Zugleich ist da eine Erleichterung spürbar, es endlich loszuwerden. Trotzdem bin ich unsicher, ob es richtig ist, den alten Mann mit der Aufarbeitung dieses Traumas zu belasten. Als spüre er meine Unsicherheit, beteuert er mehrfach: "Es ist gut, dass ich dir das erzählen kann. Du kannst das alles aufschreiben. Es stimmt. So ist es gewesen. Ich weiß es noch ganz genau."

Also nicke ich ihm nur verständnisvoll zu. Aber kann ich wirklich verstehen, was gerade in ihm vorgeht? 

"Wir haben dann alle die Kiste mal in der Hand gehabt und dann hat mein Freund sie auf den Weg gestellt. Weißt du, mitten auf den Weg. Ich habe gesagt, dass wir das so nicht stehen lassen können. Wenn die Bauern mit ihren Kühen kommen. Und mit den Fuhrwerken. Also habe ich die Kiste wieder in die Hand genommen und zurück in die Hecke geworfen. Dann ..." Er stockt, atmet hörbar: "Dann gab es einen riesigen Knall. Alles ist durch die Luft geflogen."

Mit einer Hand deutet er auf seinen Bauch. "Mein Freund lag am Boden. Er hat so geschrien. In seinem Bauch war ein riesiges Loch. Und alles voller Blut. Ich bin losgerannt, hoch ins Dorf und habe Hilfe geholt." 

"Wenn es Ihnen zu viel ist, können wir wirklich aufhören", versuche ich, ihn von den schrecklichen Bildern abzulenken, die nicht nur durch seine Worte, sondern auch durch seine Mimik sichtbar werden. 

"Nein, nein. Du musst das wissen. Und du kannst das schreiben. Es ist die Wahrheit. Wirklich."

Also höre ich weiter hin. 

"Die Männer sind dann mit einer Leiter in den Wald gelaufen und haben ihn geholt. Aber als sie zurück im Dorf waren, war er schon tot. Und der andere. Ja, der hatte eine Schramme am Kopf. Sonst nichts. Aber der wurde ins Krankenhaus gebracht. Und ich? Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich eine große Verletzung am Bein hatte und auch heftig blutete. Das hat auch sonst niemanden interessiert." Wieder macht er eine Pause. "Weißt du, ich war das uneheliche Sohn meiner Mutter. Ein Bankert. Ja, so hat man mich genannt. Aber als das passiert war, nannten sie mich nur noch Mörder."

Mir steigen die Tränen in die Augen und es schnürt mir die Kehle zu. "Das tut mir so leid", flüstere ich.

"Ich war so traurig, weil mein Freund gestorben war. Und ich glaubte ihnen, dass es meine Schuld war. Niemand fragte mich, was eigentlich passiert war. Und als der andere dann eine Blutvergiftung bekam, weil er nach dem Krankenhaus gleich wieder auf dem Hof seiner Eltern mitarbeiten musste, war auch ich schuld. Wir waren zu dritt. Nur ich blieb am Leben. Also war ich der Mörder."

 

Unser Interview dauerte noch viel länger. Ich werde die traurigen Augen, die taggenauen Schilderungen und seine Beteuerungen, dass es wirklich die Wahrheit sei, nie vergessen. Und ich weiß von meiner Großmutter, dass es tatsächlich so geschehen war. Sie wusste auch von den Anfeindungen gegen ihren Klassenkameraden. Und sie wusste, wie dankbar er ihr war, dass sie trotzdem mit ihm redete. Wie schnell Menschen andere verurteilen erleben wir auch heute immer wieder. Wie schnell wir denken, die Wahrheit zu wissen, ohne einen Schimmer davon zu haben. 

 

Noch immer liegen in deutschen Wäldern unzählige Tonnen Weltkriegsmunition. Mittlerweile meist bedeckt von Erde. Wie gefährlich diese "Altlasten" sind, wurde deutlich, als in der Nähe meines Heimatortes vor zwei Jahren der Wald brannte. Plötzlich war vieles wieder präsent. Wir mussten erkennen, dass die Geschichte lebendig bleibt. Spätestens wenn bei Ausgrabungen, Waldbränden oder anderen Ereignissen der Kampfmittelräumdienst kommen muss, nehmen wir die Gefahr deutlich wahr. Bei der Entschärfung von Bomben, Granaten und anderen Dingen lässt sich die Sicherheit in den meisten Fällen durch Experten bald wiederherstellen. Doch wenn die Seele beschädigt ist, so wie bei Albert, bleibt die Wunde. Sie vernarbt, reißt wieder auf, vernarbt erneut. Sichtbares Zeichen seines Erlebnisses war die Narbe an seinem Bein. Die Narben auf der Seele haben niemanden je interessiert. Schließlich war er ja "nur" ein uneheliches Kind, ein Bankert ... 

Seine Geschichte sollte Mahnung sein für uns alle. Nicht voreilig zu be- und verurteilen. Uns gegenseitig zu unterstützen, auch wenn einer einen Fehler macht und die Seelen unserer Mitmenschen nicht mit Füßen zu treten, sondern einander wertschätzend zu begegnen. 

 

Wer mehr über die heutigen "Altlasten" aus Kriegszeiten lesen möchte, findet unter anderem hier einen interessanten Artikel

 

Und wer die ganze Geschichte von Albert lesen möchte, findet sie, verpackt in Form von Elises kleinem Bruder Hans, im Roman "Heidelbeerfrau"