Kann die Menschlichkeit verloren gehen, wenn man Dienst nach Vorschrift macht? Schließt Dienst nach Vorschrift Menschlichkeit per se aus? Zur Zeit des NS-Regimes hatten die Ideologie und die Ansichten vieler Menschen mit Menschlichkeit wenig bis gar nichts zu tun. Und doch gab es vereinzelt auch Gesten der Menschlichkeit, wenn Menschen entgegen ihrer Dienstvorschrift Verfolgten oder Bedrohten halfen und nicht die Ideologie und deren widersinnige Gesetze in den Vordergrund stellten.
Wie sah es im Heeressanitätswesen aus, wo Menschlichkeit eigentlich zum Berufsbild dazugehört? Veränderte sich die Sicht auf Menschlichkeit im Laufe des Krieges? Konnte Menschlichkeit bei den prekärer werdenden Lebensbedingungen noch gelingen? Und was können wir daraus für unser eigenes Leben im Heute mitnehmen? Diesen Fragen gehen wir in unserem Blogbeitrag »Dienst nach Vorschrift vs. Menschlichkeit« nach.
Während Hannas Kriegseinsatz im Kriegslazarett wurden die Zustände und Arbeitsbedingungen im weiteren Kriegsverlauf immer verheerender: Ein nicht zu bewältigender Zustrom an Verwundeten und Schwerstverletzten, damit verbundene erhebliche Mehrarbeit, Personalausfall aufgrund von Erkrankungen, Material- und Medikamentenknappheit wegen abgeschnittener Transportwege zwischen Deutschland und dem Kriegsgebiet etc.
Der „Dienst nach Vorschrift“ war immer schwerer zu erfüllen und bestand ab einem gewissen Zeitpunkt mehr oder weniger nur noch darin, die Schwerstverletzten abzusondern und sterben zu lassen und die anderen so schnell als möglich zu versorgen und die sogenannte Kriegsverwendungsfähigkeit, also die Dienstfähigkeit wiederherzustellen. Da blieb – theoretisch betrachtet – weder Raum noch Zeit für Menschlichkeit, für ein aufmunterndes Wort, für eine tröstende Hand.
Beschreibungen, die in manchen Situationen auch an heutige Arbeitsbedingungen im Gesundheitsbereich denken lassen.
Wie bewältigten die Krankenschwestern, Pfleger und Ärzte das damals? Mal abgesehen von der Einnahme von Drogen, über die ich in einem folgenden Blogbeitrag noch berichten werde.
Aufgrund des Aufwachsens während des Nationalsozialismus, aufgrund der weitreichenden Indoktrination und sicherlich auch aufgrund der damaligen Erziehung waren die meisten Menschen obrigkeitsgläubig und beseelt vom Leistungsgedanken. Getreu dem Motto »bis zum letzten Mann, bis zur letzten Patrone« leisteten sie schier Unmenschliches. Aufgeben war keine Option. Funktionieren und Leistung bis zum Umfallen war die Devise – und umfallen stand nicht zur Debatte. Zu allem Überfluss gab es auch noch Verordnungen und Gesetze, deren Missachtung im schlimmsten Fall in Zuchthaus, Konzentrationslager oder in der Todesstrafe enden konnte. Auch brachte man durch die mögliche Anwendung der Sippenhaft unter Umständen seine Familie in Gefahr.
Angst macht willig …
Und wer bis zum (oder bis kurz vor dem) Umfallen in Arbeit eingespannt ist, hat kaum noch Ressourcen, über seine Situation nachzudenken, kaum noch Ressourcen zu reflektieren und sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen aufzulehnen.
Das Recht auf freie Äußerung der Meinung war während des NS-Regimes außer Kraft gesetzt und fand erst 1949 mit dem Grundgesetz wieder Einzug in Deutschland.
Angst war also ein weiterer Grund (oder eine Ausrede) zu schweigen und sich den Gegebenheiten zu beugen.
Wenn man derart unter permanentem Stress steht, wird die biochemische Reaktion des Körpers auf den Stress irgendwann zur Gewohnheit und man gerät in eine Art Abhängigkeit nach den Stresshormonen, die das Nervensystem ausschüttet. Hat man dabei nicht die Möglichkeiten (oder den Willen), zur Ruhe und Erholung zu kommen, »braucht« man irgendwann diesen Stress, diese Probleme und Lebensumstände, um sich selbst überhaupt noch fühlen zu können. Ein wahrer Teufelskreis tut sich da auf. Das gilt für damals gleichermaßen wie heute.
Geht die Menschlichkeit im Stress verloren?
Während der Gespräche, die ich mit meiner Großmutter für den Roman »Hanna« geführt habe, betonte sie oft, dass sie im Lauf der Zeit abgestumpft sei. Wenn man so viel Leid und Elend sieht, tagtäglich darin funktionieren und arbeiten muss (und man nicht zur Ruhe kommt, seine Situation nicht reflektiert), wird man blind, wird man taub, spaltet sich ab von sich selbst und schafft so Distanz zwischen sich und den Missständen, den Patienten und deren Schicksalen.
Hat sie dadurch ihre Menschlichkeit verloren? Sie war Krankenschwester mit Leib und Seele – während des Kriegs und auch danach – und ich konnte aus ihren Schilderungen immer wieder Gesten der Menschlichkeit heraushören, waren die Umstände auch noch so schlimm. Sie und auch ganz bestimmt sehr viele ihrer Berufskolleginnen und -kollegen setzten vieles daran, dass die Menschlichkeit ihren Patienten gegenüber nicht ganz auf der Strecke blieb, ungeachtet des eigenen Zustands.
Im Roman »Hanna« zeigt Hanna diese Menschlichkeit innerhalb ihres Dienstes, den sie überwiegend treu nach Vorschrift leistet. Sie bringt sich durch das Praktizieren der Menschlichkeit nur vereinzelt in Gefahr. Im Gegensatz dazu zeigt Elise im Roman »Heidelbeerkind« ihre Menschlichkeit einem Deserteur gegenüber und gefährdet sich damit selbst. Zwei starke Frauen, die Menschlichkeit leben – auf ganz unterschiedliche Weise.
»Es war halt damals so« ist eine oft zitierte Äußerung, wenn man Zeitzeugen befragt. Dieser Satz und das anschließende stoische Schweigen sollen als Antwort reichen – ein möglicher Hinweis, dass die damalige Zeit, das Handeln, Fühlen und Denken von damals bis heute nicht reflektiert wurde. Ein Schweigen im Wort und im Geiste sozusagen. Umso wichtiger, dass wir heute sowohl die Umstände als auch uns selbst, unser Handeln, Fühlen und Denken immer mal wieder hinterfragen, damit wir die Menschlichkeit nicht aus dem Blick verlieren und sie immer wieder in unseren »Dienst nach Vorschrift« integrieren.
Willst du mehr über die Hintergründe zu den Romanen »Hanna« und »Heidelbeerkind« erfahren und Parallelen zum realen Heute erkennen? Diese Möglichkeit bekommst du in den Workshops von Workshop Geschichte, einem Projekt für mehr Menschlichkeit von den Autorinnen Marion Bischoff und Sandra Jungen. Denn wer die Vergangenheit versteht, kann Zukunft sinnvoll und menschlich gestalten.
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